

Je hektischer mein Alltag, desto mehr vermisse ich die unvergleichliche Stille der Natur. Werden die Tage erst kürzer, wächst die Sehnsucht nach ihr noch viel stärker. Verband ich mit dem Winter als Kind noch eine Garantie für Schnee, zeigt er sich heute nur noch selten von seiner schönsten Seite. Viel zu viel Trübsal dominiert die ohnehin schon depressiven Massen in der kalten Jahreszeit. Ein warmes Gefühl bringt mir der Gedanke an meine kindliche Angst vor ebendieser Stille. Der Stille der Natur. Beim Betreten der Wälder knirschte der unantastbare Schnee so herrlich unter den Stiefeln, dass ich mich wie ein Eindringling fühlte. Ich schämte mich, die Ruhe zu stören. Ein Bericht von Kevin
Zeit, die Sehnsucht nach dem unberührten, rauen Leben zu befriedigen. Zeit für Island im Winter.
Zum 29ten Geburtstag belohne ich mich selbst, das kann ich ganz gut. Meinen Rucksack fülle ich mit dicker Kleidung und Sylvain Tesson als Nachtlektüre, meine Bibel der Einsamkeit. Der Gaskocher und die Kopflampe werden meine einzigen Lichtquellen sein, neben den erhofften Nordlichtern. Mit meinem Travel Buddy Niklas war ich bereits im Sommer in Island. Seitdem lässt das Land der Trolle meine Gedanken nicht mehr los. Diesmal zieht es mich alleine in den hohen Norden, Niklas wird bald Vater und so geht sein Leben allmählich andere Wege. Alles Gute dir und deiner kleinen Familie! Kurz vor meiner Ankunft zieht einer der härtesten Schneestürme der vergangenen 70 Jahre über Island hinweg. Das beruhigt, bekanntlich kommt nach dem Sturm die Ruhe. So erhoffe ich mir perfekte Bedingungen für Aurora. Eisige Kälte, klarer und wolkenloser Himmel, die pure Dunkelheit … und eine Dose Baked Beans über dem summenden Gaskocher. So beginnt meine erste Nacht in der offenen Klappe des Kofferraums. Bei einem teuren Bier beobachte ich die rosafarbene Leinwand des Sonnenuntergangs am Horizont und verliere mich im Rauchschleier meiner Cigarillo. Am frühen Morgen weckt mich die Kälte. Mein abgesetzter Atem kristallisiert an der Scheibe und ich quäle mich schüttelnd in Shorts in Botten vor den Wagen.
Während des morgendlichen Austritts erstarre ich kurz: was wäre, wenn ich – wie so oft – den Schlüssel im Wagen vergessen habe? Heute habe ich Glück und so finde ich noch einige Stunden Schlaf. Als ich wach werde stehen einige Island-Pferde in der Nähe meines Wagens, was für tapfere Zeitgenossen in dieser rauen Natur. Verweichlicht stelle ich die Standheizung an und warte bei einem Kaffee darauf, dass der vor mir liegende Bergrücken mit seinen weißen Spitzen erwacht. Aufbruch! Ich vertreibe mir die Zeit an einigen Wasserfällen nahe der Ringstraße, suche mir einsame Strandabschnitte zum Lesen, zum Schlafen, zum frei sein. Ich beobachte Rentiere, pirsche mich an sie heran. Höher, schneller, besser – die treibenden Kräfte des Alltags sind plötzlich ganz weit weg. Ich bin abgeschnitten, ohne die heimische Hektik. Heute Abend schlage ich mein Lager an einem weiten Moosfeld auf, im Hintergrund die Berge des Vatnajökull Nationalparks. Mit der Zahnbürste im Mund mustere ich völlig erledigt den Himmel und meine, einen langen weißen Schleier zu erkennen. Ich bin verdammt müde aber halte mich mit aller Kraft wach: werde ich heute tatsächlich Polarlichter sehen?
Ein anderer Camper steht etwa zehn Meter neben meinem Auto. Nach einer englischen Begrüßung stellen wir in Windeseile fest, dass deutsch doch die bessere Wahl ist. Weit weg von zu Hause treffe ich Peter, einen begnadeten Hobbyfotograf mit einem ganzen Arsenal an Kamera-Equipment. Ich bin etwas beschämt mit meiner einen Kamera und zwei Objektiven. Während wir ins Plaudern kommen, geschieht das Unfassbare. Der mittlerweile schwarze Nachthimmel beginnt leicht zu ergrünen. Völlig aufgeregt bölke ich Peter zu: Peter, ich sehe Polarlichter. Er holt sofort eine Kamera, dreht die Iso unendlich hoch und zielt gen Himmel. Aurora! sagt er mit einem feierlichen Grinsen im Gesicht. Ich bin wieder hellwach. Die ganze Nacht hindurch darf ich Peter assistieren, lerne viel über Kameraeinstellungen bis die Finger von der Kälte erstarren. Wir runden unsere besondere Begegnung mit einem Tallisker Dark Storm Whisky und einer Zigarillo ab. Zufrieden und vereist schmiege ich mich an meinen kalten Schlafsack. Peter und ich sollten uns auch die nächsten Abende treffen, gemeinsam speisen und von den Erlebnissen des Tages erzählen.
Großes Glück beschert mir vier Nächte in Folge Nordlichter. Ich kann meine Gefühle des Moments kaum ausdrücken, in dem die Lichter eines Nachts minutenlang regelrecht tanzen. Das Glück der Dummen ist wieder einmal auf meiner Seite und es scheint nicht der Wind, weshalb ich mir Tränen aus meinem Gesicht wischen muss.

Im Laufe der Tage besuche ich das Skaftafell, den Jökulsárlón, steige in Eishöhlen hinab und besteige einen Berg. Oben angekommen sitze ich friedlich und frage mich, ob sich meine Adern genau so imposant durch meinen Körper ziehen, wie die kleinen Flussläufe des vor mir liegenden Panoramas. Während des Abstiegs treffe ich, völlig verschwitzt im Nirgendwo, auf eine heiße Quelle. Mit Schnaps und Zigarillo versteinere ich für über eine Stunde in einer fast 40 Grad warmen Brühe. Die verdiente Wohltat nach einer knapp fünfstündigen Strapaze am eisigen Berg. Ich könnte noch Tage hier sitzen und die Veränderungen der Lichteinflüsse an den Bergkämmen beobachten. Am Abend treffe ich mich mit Peter in der Stadt Vik. Nach einem kalten Bier und leckerem Abendessen machen wir uns mit unseren Kameras auf in die Natur, da fällt mir am Horizont ein kleiner brauner Fleck auf.
Ein Polarfuchs. Plötzlich springt er lebhaft hoch, ich pirsche mich langsam heran, bewaffnet mit Crackern und Wurst.
Der kleine Freund ist auf Nahrungssuche im doch so harten Winter. Wir beschnuppern uns gegenseitig, gehen auf Tuchfühlung und auf einmal springt er mir regelrecht in die Arme, was für ein Erlebnis. Zum Glück ist Peter an meiner Seite, der diesen Moment mit legendären Bildern einfängt bevor der Polarfuchs gesättigt zurück in die Tundra schreitet. In einer Isländischen Sage heißt es: wenn du dich verloren fühlst und einen Polarfuchs triffst, folge ihm und er bringt dich dich immer nach Hause. Gerne würde ich es ausprobieren, vertraue dann aber doch lieber dem Flugticket. Nun sitze ich im Flieger in Richtung Alltag. Die lokalen Bierspezialitäten lassen meinen Kopf brummen – Trolle, Elfen und Feen verabschieden mich kopfschüttelnd … wäre ich doch lieber dem Fuchs gefolgt!



Text: Kevin | Fotos: Kevin & Oezdemir Peter-Sevinc